Rede von Helmut Schmitt, vom Förderverein Frieden Mannheim, für die Kundgebung 1 Jahr Krieg in der Ukraine am 24.02.2023 in Mannheim


Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,
auch ein Jahr nach Beginn der völkerrechtswidrigen Invasion russischer
Truppen in die Ukraine ist ein Ende des Krieges nicht absehbar.
Seit dem Einmarsch bestimmen Kriegsberichterstattung und eindimensionale
politische Debatten den öffentlichen Diskurs in Deutschland. Der Diskurs steckt
fest zwischen den schlechten Alternativen einer Verharmlosung des russischen
Angriffskriegs einerseits und der Glorifizierung des Westens andererseits.
Während die Grünen, die 2021 immerhin mit dem Versprechen angetreten sind,
Rüstungsexporte zu stoppen, mittlerweile eine Kriegswirtschaft aufbauen
wollen, haben die Rechtsextremen von der AfD pazifistische Kreide gefressen.
Waffenlieferungen würden nur das Leiden verlängern, verkünden die Rassisten,
die bislang noch für jeden (deutschen) Eroberungskrieg der Vergangenheit
Verständnis gehegt haben.
In dieser Gemengelage sind linke Kräfte und die Partei Die Linke kaum
wahrzunehmen. Das liegt auch daran, dass es zu diesem Krieg keine einfache
Position gibt: Alle „realpolitischen“ Lösungen sind katastrophal.
Wenn Russland die Ukraine militärisch unterwirft, ist das eine Einladung an
alle imperialistischen Projekte, die Nachbarländer zu überfallen. Wenn die Nato
hingegen hochmoderne Waffen liefert, um den Kollaps der Ukraine zu
verhindern, hält das einen Abnutzungskrieg in Gang, an dessen Ende im besten
Fall Hunderttausende, im schlechteren Fall Milliarden Menschen tot sind.
Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,
wie können linke und emanzipatorische Kräfte damit umgehen? Die erste
Aufgabe besteht wohl darin, sich zu vergegenwärtigen, wem ihre Empathie
gelten muss, nämlich nicht den Nationalstaaten, sondern denjenigen, die unter
dem russischen Überfall leiden: der Bevölkerung in zerschossenen ukrainischen
Ortschaften, den geflohenen Kindern, den zwangsrekrutierten Soldaten auf
beiden Seiten der Frontlinie.
Jetzt ist Solidarität gefragt! Das heißt: Geflüchtete aufnehmen, Lebensmittel
und Medikamente schicken, Deserteure verstecken, Oppositionelle in Russland
und der Ukraine nach ihrer Meinung befragen.
Erst, wenn man sich darum bemüht, kann man den Waffenlieferungen der Nato
glaubwürdig widersprechen. Denn das bleibt unverzichtbar und zwar aus
folgenden Gründen:
Erstens: Die sogenannte „Zeitenwende“ ist ein militaristisches
Konversionsprogramm. Rüstungskonzerne gelten auf einmal als ganz normale
Wirtschaftsunternehmen. Nato-Strukturen, die in den letzten 70 Jahren noch für
jede Diktatur im eigenen ökonomischen Interesse aktiviert wurden, werden jetzt
zur Friedensmacht erkoren.
Auf diese Weise werden die reaktionärsten, aggressivsten und zerstörerischsten
Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft gestärkt. Nichts ist in Anbetracht
dessen so wichtig wie ein Nein zu Aufrüstung und militärischer Mobilmachung.
Zweitens: Die Bedrohung durch die Osterweiterung der Nato ist sicher ein
nicht unwesentlicher Aspekt, der den Krieg der eigenen russischen Bevölkerung
gegenüber rechtfertigen soll.
Aber der russischen Führung geht es in der Ukraine nicht in erster Linie um die
Nato, sondern darum, sich durch Krieg jenes geopolitische Gewicht zu
verschaffen, das man wirtschaftlich nicht mehr besitzt. Und sie will (wie schon
in Belarus) verhindern, dass sich ein westlich orientiertes, bürgerlich-
parlamentarisches System etabliert, das auch in Russland als Alternative
betrachtet werden könnte.
Aber wahr ist trotzdem eben auch, dass sich über den Verteidigungskampf der
Ukraine ein zweiter, anders gelagerter Krieg legt: Der atlantische Westen
finanziert einen Abnutzungskrieg, in dem sich Russland verbrauchen und als
Verbündeter Chinas ausgeschaltet werden soll. Denn ein Krieg im Pazifik ist für
die US-Führung eine ganz rationale Option. Anders ausgedrückt: Die Ukrainer
verteidigen ihr Leben, die westlichen Staatenlenker verfolgen ihre eigenen
geostrategischen Projekte.
Drittens: In diesem Krieg gibt es nur zwei Optionen. Entweder er eskaliert
oder er wird durch Verhandlungen eingefroren. Dass die Interessen Russlands
mit dem Völkerrecht unvereinbar sind und es dementsprechend wenig
Grundlage für Verhandlungen gibt, ist ein berechtigter Einwand. Nur: Das
stimmt für fast alle bewaffneten Konflikte. Das Einfrieren von Kriegen sorgt
immerhin dafür, das Sterben zu begrenzen und eine Eskalation zu verhindern.
Auch in Vietnam wurde mit dem Aggressor verhandelt, um ihn am Ende durch
den Widerstand der Bevölkerung politisch zu besiegen (auf dem militärischen
Schlachtfeld blieben die USA unbesiegt).
Wenn es nicht gelingt, diesen Krieg zu stoppen, steuern wir auf einen dritten
Weltkrieg zu. Ein Waffenstillstand und Friedensverhandlungen sind deshalb in
diesem Krieg dringender denn je. Neben der praktischen Solidarität mit den durch den Krieg direkt betroffenen
Menschen ist es die Aufgabe der Linken Widerstand zu leisten gegen den neuen
– ideologischen, wirtschaftlichen und militärischen – Kriegskurs der
Herrschenden hierzulande sowie der Aufbau einer internationalen
Antikriegsbewegung.
Es darf auch nicht zugelassen werden, dass die politische Rechte in der
Öffentlichkeit als die eigentliche Kriegsgegner:in wahrgenommen wird. Hier
gilt es, deren Demagogie und Menschenfeindlichkeit zu entlarven und ihnen die
öffentlichen Plattformen streitig zu machen.
Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,
stellen wir uns gemeinsam aktiv gegen die Waffenlieferungen!
Fordern wir stattdessen: Milliarden für den Ausbau der Daseinsvorsorge und für
die Einhaltung der Klimaziele, nicht für die Bundeswehr!
Ich danke für eure Aufmerksamkeit!